3

Samhain: das einstige Hallowe’en, die Zeit, in der die Geister der Toten für eine Nacht unter den Lebenden weilen. Samhain, der Wendepunkt, der Eintritt der dunklen Hälfte des Jahres. Samhain, der Tag, da die Tiere geschlachtet werden, Samhain, das Fest des Unheimlichen. Und doch war der Monat vor Samhain auf der westlichen Insel mit ihrem milden Klima gewöhnlich eine freundliche Zeit.

Deirdre hatte es immer so empfunden. Manchmal waren die Tage ganz weich und neblig, manchmal wirkte der klare blaue Himmel so hart, dass man glaubte, man könnte ihn berühren. Sie liebte die herbstlichen Wälder, wenn das Laub braun wurde und trocken unter ihren Schritten raschelte. Und wenn ein leichtes Frösteln in der Luft lag, fühlte sie ein Prickeln im Blut.

Drei Tage war Larine bei ihnen auf ihrer kleinen Insel geblieben. Er hatte Heilkräuter mitgebracht, um Conall zu behandeln. Die beiden Männer verbrachten ganze Stunden in Zwiegespräch und Gebet; und auch wenn sie sich ausgeschlossen vorkam, konnte Deirdre förmlich sehen, wie Conall an Körper und Geist gesund wurde. Nach dieser Zeit schied Larine wieder von ihnen, aber bevor er sie wieder verließ, erklärte er ihr freundlich:

»Es wird noch eine kleine Weile dauern, liebe Deirdre, bis Conall wieder vollkommen genesen ist. Bleib daher so lange hier oder bei deinem Vater. Niemand wird euch behelligen. der König wünscht, dass die Versöhnung auf dem Samhainfest vollkommen ist, dann werdet ihr ihm eure Aufwartung machen.« Und da er ihre Gedanken erriet, fügte er lächelnd hinzu: »Du brauchst vor der Königin keine Angst mehr zu haben. Sie wird dir nun nichts mehr zu Leide tun.«

Am nächsten Tag brachte der Vater seine Tochter und Conall nach Hause.

Der Monat, den sie in Dubh Linn verbrachten, war eine glückliche Zeit. Wenn Deirdre noch Zweifel gehegt hatte, ob Conall ihre Familie mögen würde, so wurden diese schon bald ausgeräumt. Jeden Abend lauschte er ohne das geringste Zeichen von Langeweile den Geschichten, die ihr Vater über seine Vorfahren erzählte; er spielte mit ihren Brüdern Hurling und genoss harmlose Schwertkämpfe, bei denen er ihnen nicht ein Haar krümmte. Er konnte Fergus sogar überreden, die zerbrochenen Bohlen auf der Hürdenfurt zu ersetzen, und half ihm dabei. Sie stellte fest, dass seine Wunden nicht nur verheilt waren, sondern dass man kaum noch die Stellen erkennen konnte, wo sie gewesen waren. Wenn er sich nachts zu ihr legte, hatte sie das Gefühl, als sei sein bleicher nackter Körper wieder so vollkommen wie zuvor. Sie selbst konnte bereits spüren, wie das Kind in ihr heranwuchs.

»Er wird zu Mittwinter auf die Welt kommen«, sagte sie glücklich, »wie eine Verheißung des Frühlings.«

»Du hast ›er‹ gesagt«, bemerkte Conall.

»Ja, denn es wird ein Junge, Conall«, antwortete sie. »Das spüre ich.«

Sie spazierten zusammen an den Ufern des Liffey, wo die Weiden ihre Äste im Wasser treiben ließen, oder durchquerten die Eichen– und Buchenhaine. Jeden Tag besuchten sie auch eine der drei kleinen heiligen Quellen, wo Conall ihren anschwellenden Bauch mit Wasser besprengte und seine Hand über seine Rundung gleiten ließ. Es gab Tage mit Nebel und Tage mit Sonnenschein, aber die Winde waren sehr sanft in diesem Monat, so dass die Bäume noch dicht und schwer mit den reichen Gold– und Bronzefarben des milden Herbstes belaubt waren. Nur das Zusammenscharen der Zugvögel kündigte den Winter an.

Zwei Tage vor Samhain, als riesige Schwärme von Staren die Bäume von Dubh Linn umkreisten, trafen die drei Streitwagen ein.

* * *

Deirdre konnte sehen, wie selig ihr Vater war; nie zuvor hatte er sich auf diese Art fortbewegt. Die drei Streitwagen, jeder mit einem Wagenlenker bemannt, waren in der Tat prachtvolle Gefährte. Fergus und seine zwei Söhne wurden in dem einen gefahren, Deirdre in dem zweiten; und der dritte Streitwagen, der schönste von allen, war für Conall bestimmt. Zwei schnelle Pferde waren an die Deichsel geschirrt.

Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne funkelte auf den weiten Uferwassern des Liffey, als sie die Furt überquerten. Ihr Weg führte in nordwestliche Richtung. Den ganzen Nachmittag fuhren sie über wogendes Grasland und bewaldete Abhänge. Am frühen Abend fanden sie in einem Eichenwäldchen einen angenehmen Platz, um ihr Lager aufzuschlagen. Am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt. Das Licht war bleiern und grau; die schrägen Sonnenstrahlen, die zuweilen durch die Wolken brachen, wirkten auf Deirdre leicht bedrohlich. Aber der Rest der Gruppe war guter Dinge, als sie in nordwestlicher Richtung ihren Weg fortsetzten und dem Tal des Boyne–Flusses entgegenfuhren.

»Am Nachmittag werden wir dort sein«, sagte ihr Wagenlenker. »Dann werden wir im königlichen Tara sein.«

Und gleich darauf rief ihr Vater strahlend:

»Erinnerst du dich, Deirdre? Erinnerst du dich noch an Tara?«

Natürlich erinnerte sie sich. Wie hätte sie es auch vergessen können? Es lag bereits Jahre zurück, als ihr jüngerer Bruder acht Jahre alt gewesen war und Fergus sie alle an einem Sommertag nach Tara mitgenommen hatte. Es war ein glücklicher Ausflug gewesen. Die berühmte Stätte lag auf einem ausgedehnten, breiten Hügel mit sanft ansteigenden Hängen, die sich eine halbe Tagesreise flussaufwärts von Dagdas Wohnort, dem uralten Grabhügel mit seinem Lichtdurchgang zur Wintersonnenwende, über dem Tal des Boyne erhoben. Bis auf einen Wächter war die riesige Anlage in jener Sommerzeit verlassen gewesen, denn außer zu ihrer feierlichen Weihe und Krönung pflegten die Hochkönige nur zum Samhain–Fest nach Tara zu kommen. Fergus hatte seine kleine Familie dort so stolz hinaufgeführt, als sei er der Herr über diesen Ort, und hatte ihnen seine wichtigsten Einrichtungen gezeigt – die großen kreisförmigen Erdwall– und Grabenanlagen, in deren Mitte die Altäre und die Banketthalle für das Fest errichtet wurden.

»Hier wählen die Druiden den neuen Hochkönig«, erklärte er vor einem kleineren Erdwall. »Einer von ihnen trinkt das Blut eines Stiers, und darauf senden ihm die Götter eine Vision.« Dann hatte er ihnen zwei dicht nebeneinander stehende Steine gezeigt: »Zwischen diesen Steinen muss der neue König mit seinem Streitwagen hindurchfahren. Wenn er zwischen ihnen stecken bleibt, ist er nicht der rechtmäßige König.« Am meisten hatte Deirdre damals der alte aufrecht stehende Stein in der Nähe des Hügelgipfels beeindruckt, der Lia Fdl oder Fal–Stein. »Wenn sich der Streitwagen des wahren Königs nähert und den Fal–Stein berührt«, erklärte Fergus mit feierlichem Ernst, »dann hören die Druiden, wie er aufschreit.«

»Und muss er danach«, hatte einer ihrer Brüder gefragt, »nicht eine weiße Stute begatten?«

»Das muss er tatsächlich«, sagte Fergus stolz.

Für Deirdre hatte der Zauber von Tara vor allem in der Lage des Ortes gelegen. Nicht nur bei Tage, sondern auch bei Sonnenauf– und –Untergang, wenn ringsumher die Nebel über den Tälern lagen und der Hügel von Tara wie eine schwimmende Insel in der Welt der Götter wirkte, bot sich eine herrliche Aussicht.

Daher hätte sie eigentlich glücklich sein müssen, als sie wieder dorthin fuhren.

Der Mittag war vorüber, als Tara in Sicht kam und sie auf der breiten Zufahrtsstraße dahinjagten. Die Wagenlenker schwenkten in eine Dreiecksformation mit Conall an der Spitze ein, so dass Deirdres Wagen hinter seinem linken und der ihres Vaters hinter seinem rechten Rad fuhr. Obwohl der Himmel immer noch von stumpf metallischem Grau verhangen war und nur von wenigen silbrigen Streifen Sonnenlicht durchbrochen wurde, war es nicht sonderlich kalt. Zahlreiche Menschen säumten die Straße, viele von ihnen mit Körben in der Hand. Als Conall sie erblickte, warf er seinen Mantel von den Schultern. Mit seinem entblößten Körper sah er wie ein Krieger aus, der in den Kampf zog. Die drei Wagen jagten in ihrer Pfeilspitzenformation voran, und als sie sich auf gleicher Höhe mit ihnen befanden, griffen die Jubelnden in ihre Körbe und warfen wilde Herbstblumen in Conalls Wagen. Obgleich er der Neffe des Hochkönigs war, wunderte sich Deirdre, dass man ihn so überschwänglich wie einen Helden begrüßte.

Nun ragte über ihnen der Hügel auf. Auf dem langen Erdwall waren Scharen von Menschen zu erkennen. In der Mitte des Walls stand ein Spalier von Priestern mit langen Bronzeposaunen und jenen großen Stierhörnern, die das Zeichen der Königswürde waren. Hinter ihnen waren die Gebäude aus Flechtwerkwänden zu erkennen, die man für das Fest errichtet hatte. Über mehreren Feuern stiegen dünne Rauchsäulen in die Höhe. Nun erreichten sie eine grasbewachsene, hie und da von Bäumen bestandene Fläche am Fuß des Hügels, von der aus der Weg den lang gestreckten Hang hinauf direkt zum Gipfel führte. Die Priester erhoben ihre Posaunen, setzten sie an die Lippen, und es erscholl ein gewaltiger, rhythmisch pulsierender Tusch, der zu einem Furcht erregenden Lärm anschwoll.

Und da erhob sich der schwarze Nebel.

Er erhob sich so plötzlich und so mächtig, dass Deirdre unwillkürlich aufschrie. Mit einem gewaltigen Schwirren stoben die Stare auf. Zu Tausenden und Abertausenden umhüllten sie die Streitwagen mit einer flirrenden schwarzen Wolke. Sie umkreisten sie in einem fort, als wären sie in einem wunderlich dunklen Strudel einer Windhose gefangen. Der myriadenfache Flügelschlag der Vögel rauschte so laut, dass Deirdre nicht einmal ihre eigenen Schreie hörte. Vor ihnen, rings um sie her, hinter ihnen senkte und erhob sich von neuem die schwarze Wolke und schoss dann in einer gewaltigen Flutwelle auf die nahen Bäume zu.

Deirdre blickte zu den anderen hinüber. Ihr Vater und ihre Brüder lachten, Conalls Gesicht konnte sie nicht erkennen. Aber als sie zu den Menschenmassen auf den Erdwällen über sich aufblickte, wurde ihr mit neuem Entsetzen bewusst, was gerade geschehen war.

Conall war auf seinem Weg nach Tara durch einen schwarzen Nebel gekommen.

Die drei gessa waren nun alle erfüllt.

In gestrecktem Galopp fuhren die Wagen den Hang hinauf und gelangten in den großen umschlossenen Bezirk von Tara. Brennende Fackeln säumten den Weg, der zum Gipfel hinaufführte. Als sie das letzte Stück des Auffahrtswegs erreichten, hielten die beiden hinteren Streitwagen an und ließen Conall die kurze, von Erdwällen eingefasste Zeremonialallee, an deren Ende, von seinen Häuptlingen flankiert, der Hochkönig wartete, allein passieren.

Deirdre sah, wie Conall von seinem Wagen sprang und auf den König zutrat. Sie sah, wie der König seine Brust entblößte, sie seinem Neffen zum Kuss darbot und anschließend die Geste der Versöhnung erwiderte. Darauf kniete Conall vor seinem Onkel nieder, und dieser legte dem jungen Mann seine Hände auf das Haupt, um ihm seinen Segen zu geben. Eigentlich hätte Deirdre über diese Zeichen von Liebe und Vergebung glücklich sein können, aber sie war immer noch so sehr über die umherschwärmenden Vögel erschrocken, dass sie nur ein unwohles Gefühl empfand. Das alles erschien ihr nun zu schön, um wahr zu sein. Warum traten der Hochkönig und seine Männer, nachdem sie ihre Begrüßungszeremonie beendet hatten, zur Seite, wie um Conall zu ehren, während er durch ihre Mitte auf die Gruppe von Druiden zuschritt, die, wie sie nun bemerkte, hinter der königlichen Gruppe gewartet hatte? Warum war Conall, der geflüchtete Prinz, der Verräter, nun auf einmal ein Held?

»Du musst nun mit mir kommen.« Sie blickte herab und sah zu ihrer Überraschung Larine, der lächelnd neben ihrem Wagen stand. »Man hat dir einen Platz zum Ausruhen vorbereitet. Du wirst in guten Händen sein.« Da er bemerkte, wie zweifelnd sie ihn anblickte, fügte er hinzu: »Du trägst Conalls Kind unter dem Herzen. Dir wird große Ehre zuteil werden. Nun folge mir.« Er schritt voraus und führte sie zu einer kleinen Hütte. Sie hatten diese beinahe erreicht, als Deirdre den Schmied erblickte. Goibniu stand abseits und beobachtete sie. Sie ignorierte ihn, und auch er machte keine Anstalten, sie zu begrüßen. Er stand nur da und beobachtete sie. Sie konnte sich nicht erklären, warum. Als sie die Unterkunft erreichten, fragte sie Larine.

In der Hütte erwartete sie ein Sklavenmädchen, das ihr Erfrischungen reichte. Ihr Vater und ihre Brüder, vermutete sie, würden woanders untergebracht werden. Viel Volk bewegte sich in dem weitläufigen Lager, doch niemand kam auf sie zu, als sie vor ihre Tür trat. Sie hatte den Eindruck, man würde sie höflich ignorieren, als hätte man sie von den anderen abgesondert.

Endlich erschien Conall in Begleitung von Larine, der sich einige Schritte hinter ihm hielt.

Der Prinz wirkte ernst, aber vollkommen mit sich in Frieden! Welche Erleichterung musste es für ihn sein, dass sein Onkel sich wieder mit ihm versöhnt hatte. Wie freundlich und liebevoll er zu ihr herabblickte!

»Ich war bei den Druiden, Deirdre«, sagte er freundlich. »Es gab etwas zu regeln.« Er hielt einen Moment inne. »Sie werden mir eine große Ehre erweisen.«

»Wie schön, Conall«, sagte sie ohne zu begreifen, was er meinte.

»Ich habe mich auf eine Reise zu begeben, Deirdre, die nur ein Prinz unternehmen kann. Und wenn dies den Göttern gefällt, wird es zu besseren Ernten führen.« Wieder hielt er inne und blickte sie in Gedanken versunken an. »Und wenn ich über das Meer zu den Inseln der Seligen fahren müsste, um mit den Göttern zu sprechen – würdest du mich dann an meinem Aufbruch hindern?«

»Nein, ich würde auf deine Rückkehr warten. Aber die Inseln der Seligen«, fügte sie nervös hinzu, »liegen doch in weiter Ferne, Conall, in der westlichen See.«

»Das stimmt. Und wenn ich Schiffbruch erleiden und umkommen würde, dann würdest du um mich trauern, aber du wärst auch stolz auf mich, nicht wahr? Dann würdest du meinem Sohn sagen, dass er auf seinen Vater stolz sein kann?«

»Wie könnte dein Sohn nicht stolz auf seinen Vater sein?«

»Mein Vater starb auf ehrenvolle Art im Kampf. Daher grämten sich weder meine Mutter noch ich über seinen Tod, denn wir wussten, dass er nun bei den Göttern weilt.«

»Aber… was hat das alles mit uns zu tun, Conall?«, fragte sie verwirrt.

Conall bat den Druiden Larine, näher zu treten, bevor er sich wieder an Deirdre wandte: »Du weißt, dass du allein die Liebe meines Lebens bist und dass du meinen Sohn unter dem Herzen trägst. Wenn du mich so liebst, wie ich dich, dann gräme dich nicht, wenn ich zu einer Reise aufbreche. Und wenn du mich liebst, so erinnere dich stets an dies: Finbarr, den ich getötet habe, war mein liebster Freund. Aber Larine ist sogar ein noch besserer Freund. Ich muss dich nun verlassen, denn dies ist der Wille der Götter. Aber wenn Larine stets dein Freund und Ratgeber ist, wird dir nie ein Leid geschehen.« Mit diesen Worten nahm er sie in die Arme, drückte sie liebevoll an sich und küsste sie. Er wandte sich um und ließ sie mit dem Druiden zurück.

Und dann eröffnete ihr Larine, was nun geschehen würde.

* * *

Als Conall noch ein Kind gewesen war, schien ihm die Samhain–Nacht ein magischer, aber gefährlicher Moment zu sein. Die Leute ließen Speisen für die Geister auf dem Tisch, aber sie löschten ihre Feuer aus, um sicherzugehen, dass sich diese gefährlichen Besucher nicht länger in ihrem Haus herumtrieben. Als er noch klein war, ließ ihn seine Mutter in dieser Nacht stets in ihrer Nähe schlafen. Auf diese lange Nacht folgte gewöhnlich das Aussondern der Tiere – der Rinder, Schweine und Schafe, die für die Winterschlachtung ausgewählt worden waren. Das Gebrüll der Kühe und Ochsen, während man sie zu dem Pferch führte, wo die Rinderhirten mit ihren Messern warteten, hatte für Conall immer etwas bedrückend Trauriges gehabt. Andere Jungen empfanden es dagegen als einen gewaltigen Spaß, wenn die Schweine gepackt und ihre Füße mit Seilen zusammengeknotet wurden und sie dabei entsetzlich quiekten. Nachdem die Männer sie an den Hinterbeinen an einem Baum hochgezogen hatten, wurden ihnen die Kehlen aufgeschlitzt, wobei sie noch entsetzlicher quiekten: Das Blut spritzte heraus, und um sie herum wurde alles besudelt. Conall hatte das Schlachten, so notwendig es war, nie Spaß gemacht, und er hatte stets bei dem Druiden Trost gesucht, der der Verrichtung seinen Segen gab.

Als er etwas älter war, schlich er sich in der Samhain–Nacht immer heimlich hinaus und setzte sich ins Freie. Die ganze Nacht hindurch hielt er Ausschau nach vagen Schatten und lauschte nach Fußtritten, während die Geister zu Besuch kamen, in die Weidenhütten schlichen oder an den herbstlichen Bäumen vorüberstreiften. Auf einen hatte er immer ganz besonders gewartet. Sein heldenhafter Vater, hatte er als kleiner Junge gedacht, würde ihn doch besuchen kommen? Immer wieder beschwor er im Geiste Bilder seines Vaters – von der hoch gewachsenen Gestalt, von der ihm seine Mutter erzählt hatte, mit ihren blitzenden blauen Augen und ihrem langen Schnauzbart. Aber er war nie erschienen. Nur einmal, in der Samhain–Nacht, als Conall vierzehn war, hatte er ein sonderbares Gefühl der Wärme empfunden, die deutliche Anwesenheit eines Wesens ganz dicht in seiner Nähe. Und da er sich so inständig danach gesehnt hatte, dass es so wäre, hatte er geglaubt, dass es sein Vater war.

Aber jetzt, da er erwachsen war, letzte Nacht, war alles anders gewesen. Er hatte Larine gebeten, ihn bei seiner schweren Prüfung zu begleiten, und seine Bitte war ihm gewährt worden. Sie hatten zusammengesessen, sich miteinander unterhalten und gebetet. Gegen Mitternacht hatte Larine sich erhoben und seinen Freund eine Weile allein gelassen.

Er hatte sich so intensiv auf die vor ihm liegende Prüfung konzentriert, dass er sogar vergessen hatte, dass in jener Nacht die Geister unterwegs waren. Während er im Haus des Druiden allein in der Finsternis saß, war er sich nicht sicher, ob er eingeschlafen oder wach war. Auf alle Fälle sah er irgendwann in der tiefsten Stunde der Nacht eine Gestalt eintreten. Sie war nicht weniger klar und deutlich zu erkennen als zuvor Larine, obschon kein Licht den Raum erhellte. Er wusste sofort, wer es war. Sein Vater stand mit einem ernsten, doch freundlichen Lächeln direkt vor ihm.

»Ich warte schon so lange auf dich, Vater!«

»Bald werden wir wieder vereint sein, Conall«, entgegnete er. »Dann werden wir immer vereint sein – im Land des strahlenden Morgens. Ich habe dir viele Dinge zu zeigen.« Dann verschwand er wieder nach draußen, und Conall überkam ein mächtiges Gefühl des Friedens, denn er wusste, dass er im Begriff war, sich mit dem Segen der Götter zu seinem Vater zu begeben.

Schon seit langem hatten sie in Tara keinen Menschen mehr geopfert. Seit mindestens drei Generationen nicht mehr. Dies machte die Zeremonie umso feierlicher und bedeutender. Wenn irgendetwas den Fluch zu lösen vermochte, der offenbar den Hochkönig und das ganze Land getroffen hatte, dann doch wohl dieses Opfer. Wenn Conall eine Hoffnung hatte, sich von dem Gefühl des Schmerzes und der Schuld zu reinigen, das auf ihm lastete, seit er mit Deirdre durchgebrannt und Finbarr getötet hatte, so musste es dieses Opfer sein. Und doch war das Gefühl, das ihn am tiefsten ergriff, während er sich darauf vorbereitete, durch die Tore der nächsten Welt zu treten, nicht das einer persönlichen Opferung. Es war vielmehr das Gefühl, dass er sein Schicksal erfüllte. Dieses Gefühl überkam ihn nicht nur deshalb, weil sich die drei gessa sowie die Finbarr betreffende Prophezeiung erfüllt hatten, sondern eher deshalb, weil in diesem Akt alles, was er war – Prinz, Krieger und Druide seinen vollkommenen Ausdruck fand. Es war der edelste, der herrlichste Tod. Er war das, wozu er geboren war. Eins zu sein mit den Göttern: Er war seine Rückkehr nach Hause.

Er verharrte weiter in Frieden, bis sich im Osten das erste Leuchten der Morgendämmerung ankündigte und Larine in Begleitung zweier Männer zurückkehrte.

Die Druiden gaben Conall einen kleinen verbrannten Fladen zu essen und zermahlene Haselnüsse, denn der Haselstrauch galt als heilig. Nachdem er das heilige Mahl beendet und drei Schluck Wasser genommen hatte, entkleidete er sich. Sein Körper wurde sorgfältig gewaschen und mit roter Farbe bemalt, die einige Zeit brauchte, um zu trocknen. Larine band ihm eine Binde aus Fuchsfell um den linken Arm. Danach musste er warten, aber nur noch kurze Zeit, denn draußen vor der Tür wurde es zunehmend heller. Schon bald sagte Larine mit einem Lächeln zu ihm: »Komm.«

* * *

Wohl tausend Leute müssen es gewesen sein, die das Schauspiel verfolgten. Der Kreis der Druiden stand auf dem Hügel, wo alle sie sehen konnten. Auf einem anderen Hügel stand der Hochkönig. Als Conall herbeigeführt wurde, verstummte die Menge.

Der Hochkönig blickte gedankenversunken über die Menge. Es musste sein. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel, aber es war notwendig. Er blickte zu Goibniu hinüber. Kein Zweifel, der Schmied hatte ihm einen weisen Rat erteilt. Die Rückkehr des reumütigen Prinzen und sein freiwilliges Opfer waren ein Meisterstreich. Sie stellten nicht nur die Achtung des Königs wieder her – das königliche Haus schenkte einen der seinen den Göttern –, sondern brachten die Druiden in eine schwierige Situation. Denn dies war auch ihr Opfer das größte, das sie nur bringen konnten. Wurde die Insel mit einer weiteren Missernte geschlagen, so würde es ihnen schwer fallen, die ganze Schuld dem König anzulasten. Das wusste er, und das wussten auch die Druiden. Dann würde ihre Glaubwürdigkeit argen Schaden nehmen.

An seiner Seite stand die Königin. Auch sie war zum Schweigen gebracht worden. Larine hatte Conall auf der kleinen Insel getroffen, der König hatte von ihren Drohungen der armen Deirdre gegenüber erfahren. Er hatte es die ganze Zeit über geahnt. Es hatte keiner Worte bedurft, aber sie wusste, dass er im Bilde war. Und was das Mädchen anbetraf, so tat ihm Deirdre aufrichtig Leid. Man würde ihr erlauben, zu ihrem Vater zurückzukehren und Conalls Kind zur Welt zu bringen. Sogar Goibniu war damit einverstanden. Eines Tages würde er vielleicht etwas für das Kind tun. Man konnte nie wissen, wann einem ein Kind aus dem Umkreis der königlichen Familie von Nutzen sein konnte.

Nun öffnete sich ein Weg durch die Menge, und Conall, Larine und zwei weitere Priester schritten hindurch. Er fragte sich, ob Conall zu ihm aufblicken würde, aber er blickte mit ekstatischem Ausdruck geradeaus. Den Göttern sei Dank dafür. Nun erreichten sie den Flügel der Druiden und stiegen hinauf. Die Druiden standen in ihren Federmänteln am einen Ende des Hügels, während Conall in seiner rot bemalten Nacktheit einen Augenblick allein und abseits stand, so dass alle ihn sehen konnten. Der Hochkönig blickte nach Osten. Der Himmel entlang des Horizonts war klar. Das war gut. Sie würden die Sonne in dem Moment, wo sie aufging, sehen. Der Horizont begann bereits zu glühen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern.

Drei Druiden traten zu Conall herüber. Einer von ihnen war Larine. Auf ein Wort eines älteren Druiden kniete Conall nieder. Der älteste und Oberdruide legte Conall eine Garrotte um den Hals, ließ sie aber locker. Der zweite hielt ein gekrümmtes Bronzemesser, Larine eine Keule in die Höhe.

Bei einem keltischen Opfer musste es drei Tode geben: einen für die Erde, einen für die Luft und einen für den Himmel – die drei Welten. Dementsprechend wurden manche Opfer verbrannt, andere lebendig begraben, wieder andere in einem Fluss ertränkt. Auch Conall sollte drei rituelle Tode erleiden. Aber das eigentliche Ritual wurde auf barmherzige Art vollzogen. Denn zuerst würde ihm Larine einen Schlag mit der Keule versetzen, der ihm die Besinnung raubte, und während Conall kaum mehr bei Bewusstsein war, würde der Oberdruide die Garrotte festziehen, die ihn erdrosselte. Darauf würde ihm der Krummdolch die Kehle aufschlitzen und das Blut zum Fließen bringen, das vergossen werden musste.

Der Hochkönig blickte zum Horizont. Die Sonne nahte. Jeden Augenblick war es so weit. Auf dem Hügel kam Bewegung auf, die Druiden traten heran und bildeten einen Kreis um das Opfer. Nun konnten die Zuschauer nur noch die mit leuchtenden Federn bedeckten Rücken der Druiden und in der Mitte die Keule sehen, die Larine in die Höhe hielt.

Und nun sah der Hochkönig, wie die Sonne leuchtend in Richtung Tara strahlte, und wandte sich gerade noch rechtzeitig um, dass er sehen konnte, wie die Keule herabfuhr und mit einem Knacken verschwand, das in dem ganzen eingefriedeten Bereich widerhallte. Darauf folgte eine lange Stille, die nur vom Rascheln der Federn im Innern des Druidenkreises unterbrochen wurde.

Er dachte an den kleinen Jungen und den heranwachsenden jungen Mann, den er gekannt hatte, und an Conalls Mutter – seine Schwester. Das war hart, dachte er, und er wünschte, es könnte anders sein. Aber Goibniu hatte Recht. Das Leben forderte ständig Opfer.

Es war vorbei. Die Druiden zogen sich zurück – alle bis auf die ersten drei. Larine hielt eine große silberne Schüssel in den Händen. Conalls roter Körper sowie sein in sonderbarem Winkel nach vorn gesackter Kopf waren zu sehen. Während der Oberdruide den Kopf zurückzog, um den Hals zu entblößen, trat der Druide mit dem Krummdolch flink herbei und schnitt die Kehle auf, während Larine die Silberschale an Conalls Brust hielt und mit dem fließenden Blut seines Freundes füllte.

Der Hochkönig sah gebannt zu. Das Blut, so war zu hoffen, würde, sobald es über die Erde ausgegossen war, für eine bessere Ernte sorgen. Er ließ seinen Blick über die Menge wandern, die befriedigt zu sein schien. Da sah er Deirdre, die bei ihrem Vater stand.

* * *

Es war früher Nachmittag, als Deirdre erklärte, dass sie nicht mehr bis zum Fest des Königs bleiben wolle, sondern lieber nach Dubh Linn heimzukehren wünsche.

Sie war ziemlich überrascht, dass niemand etwas dagegen einzuwenden hatte. Der Hochkönig, dem ihr Vater ihren Wunsch mitgeteilt hatte, schickte ihr seinen Segen und einen goldenen Ring. Bald darauf erschien Larine und ließ sie wissen, dass er sie schon bald Dubh in Linn besuchen werde und dass zwei schnelle Wagen für sie bereitstanden. Ihre zwei Brüder, das merkte sie deutlich, wären gern noch zu dem Fest geblieben, aber ihr Vater hatte sie zum Schweigen gebracht. Sie wusste, dass sie nun aufbrechen musste. Sie konnte nicht mehr länger in Tara bleiben.

Und doch hatte sie, während Conall getötet wurde, sonderbarerweise weder Schmerz noch Entsetzen empfunden. Sie hatte gewusst, wie dieses Opfer vollzogen würde. Hatte sie nicht ihr Leben lang das Aussondern der Tiere zum Samhain–Fest miterlebt? Nein, das Gefühl, das sie empfand, war ein ganz anderes.

Es war Zorn.

Sie hatte ihn fast im selben Moment in sich aufsteigen gefühlt, als Larine sie tags zuvor verlassen hatte. Sie war allein. Conall war gegangen und würde bis zu der Zeremonie bei den Druiden bleiben. Sie begriff, wie groß ihre Macht und die des Königs und wie furchtbar erst recht die Macht der Götter war. Aber aus einem einfachen Instinkt heraus wusste sie auch noch etwas anderes: Ganz gleich, wie man es erklären würde, er hatte sie im Stich gelassen.

Und während sie die ganze Nacht hindurch darüber nachdachte, kam es ihr immer wieder zu Bewusstsein: In der ganzen Zeit auf der Insel und sogar noch nach Larines Besuch hätte er immer noch fliehen können. Natürlich, er hatte sein Wort gegeben. Der König und die Götter selbst hatten ihm dies Versprechen abgetrotzt. Aber sie hätten alle gemeinsam über das Meer fliehen können. Conall hatte die Chance gehabt, und er hatte sie nicht genutzt. Er hat sich für die Götter entschieden, dachte sie, für den Tod entschieden, statt für mich. Das war alles, was sie wusste. In ihrem Innern verfluchte sie ihn und die Druiden und sogar die Götter.

Und so verfolgte sie sein Sterben mit Verbitterung und mit Zorn. Und der Zorn schützte sie für eine Weile vor dem Schmerz.

Kurz bevor sie an jenem Nachmittag zur Heimfahrt aufbrachen, hatte sie noch eine unerwartete Begegnung.

Deirdre stand allein an einem der beiden Streitwagen, als sie sah, wie sich die Königin näherte. Sie hielt es für besser, ihr nicht unter die Augen zu treten, und suchte nach einer Möglichkeit zu entrinnen; aber die ältere Frau hatte sie bereits erblickt und trat direkt auf sie zu. Also wich Deirdre nicht von der Stelle und hoffte auf das Beste. Zu ihrer Verwunderung begrüßte die Königin sie, als sie herangetreten war, mit einem eher freundlichen Nicken.

»Heute ist gewiss ein trauriger Tag für dich, Deirdre, Tochter des Fergus. Ich bedaure die Drangsale, die über dich hereingebrochen sind.« Sie sah der Tochter des Fergus ohne jede Bosheit in die Augen. Deirdre fragte sich, was sie ihr antworten sollte. Immerhin war sie die Königin. Sie musste ihr gegenüber Respekt zeigen. Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden.

»Auf Eure Glückwünsche kann ich verzichten«, zischte sie verbittert. Dies war nicht die Art, wie man mit einer Königin sprach, aber es war ihr gleichgültig. Was hatte sie noch zu verlieren?

»Du bist also immer noch erzürnt über mich«, bemerkte die Königin mit ziemlicher Ruhe. Deirdre traute ihren Ohren nicht.

»Habt Ihr nicht gesagt, Ihr würdet mich töten?«, platzte sie heraus.

»Das ist wahr«, stimmte ihr die Königin zu, »aber das ist lange her.«

»Bei den Göttern«, schrie Deirdre, »Ihr seid wahrhaftig eine sonderbare Frau.«

»Zumindest bewies er eine edle Haltung im Tod«, sagte sie. »Du kannst stolz auf ihn sein.«

Darauf hätte Deirdre sich nur zu verneigen und irgendeine Höflichkeit zu murmeln brauchen, aber ihr Zorn hatte sie nun vollends überwältigt, und sie konnte sich nicht mehr zurückhalten.

»Stolz auf einen toten Mann«, schrie sie. »Der nützt mir viel, wenn ich allein in Dubh Linn sitze.«

»Er hatte keine Wahl, verstehst du.«

»Und ob er sich entscheiden konnte!«, schrie sie wütend. »Und er hat sich entschieden. Aber er entschied sich nicht für mich und für sein Kind. Eine herrliche Entscheidung!«

Diesmal war sie zu weit gegangen, und sie wusste es. Sie hatte das Hochkönigtum, die Druiden und Tara beleidigt. Halb herausfordernd, halb ängstlich wartete sie darauf, dass der Zorn der Königin auf sie niederfuhr.

Einige Augenblicke schwieg die Königin. Sie hatte ihren Kopf gesenkt, als sei sie tief in Gedanken. Und dann sagte sie, ohne aufzublicken: »Hast du über die Männer nicht Bescheid gewusst, Deirdre? Sie lassen uns immer im Stich.«

Und damit entfernte sie sich.